Die ganze Geschichte - (c) Rainer Wahlmann
03:44 a.m. Friday, 3rd of May 1985 Halsenna Road, Seascale
Schlaf? Der kleine Bruder des Todes
Eine schreiende Stille weckte ihn. Was war das?
Nicht der Wasserhahn, der wie immer vor sich hin tropfte. In seinem Kopf schmolzen die vergangenen Tage und Wochen zu einer klebrigen Masse. „ Ich brauche eine
Auszeit“ dachte Dave.
Verschlafen rieb er sich die Augen, hinter denen stechender Kopfschmerz pulsierte. Er stand auf. Über leere Flaschen, Tabakbeutel und übervolle Aschenbecher suchte
er sich seinen Weg zum Fenster.
„Vielleicht sollte ich mit dem Rauchen aufhören, oder mit dem Trinken; zumindest damit, beides gleichzeitig zu tun!“
Früher als sie noch das grüne Gras geschnitten und vorsichtig in der Sonne getrocknet hatten, hatte keiner von ihnen Alkohol angerührt. …früher..
Dave wusste, dass das Pochen hinter seinen Augen der verdiente Preis für diesen Tabubruch war.
Wie verloren lief er in seiner Küche herum; der Wasserhahn tropfte noch immer.
Er starrte durch das Fenster. Wie ausgestorben lag die Hallsenna Road da. Irgendetwas fehlte. Die Vögel! Nicht ein einziger Vogel war zu sehen!
Vom nahen Sellafield her erhob sich eine riesige schwarze Wolkenwand.
„Das war´s wohl! Diese Stadt wird sterben! Ich muss weg hier!“
Er schaltete das Radio ein.
Guten Morgen, es folgen die 4 Uhr - Nachrichten von Radio "Freak out - wir sind dabei!"
Unbestätigten Berichten zufolge ereignete sich ein nuklearer Unfall in der Anlage Sellafield
Wir weisen darauf hin, daß wir darüber noch keine offizielle Bestätigung haben,
werden aber selbstverständlich sofort unser Programm unterbrechen, um sie genauer darüber zu informieren,
sobald wir offizielle Verlautbarungen hereinbekommen
Immer noch kein Ende in Sicht bei den verheerenden Stürmen,
die nun schon seit 4 Wochen unser Land heimsuchen
Den Wetterfachleuten zufolge
gab es seit Beginn der Wetterbeobachtung noch nie eine solch lange Periode ohne einen einzigen Sonnenstrahl,
Jerry Baker
der bekannte irische Wissenschaftler behauptet,
es gäbe möglicherweise eine Verbindung zwischen der momentanen furchterregenden Wetterlage
und einer Reihe von Freiluftexperimenten mit
genveränderten Bakterien
die zur Zeit von
der Gesellschaft zur weltweiten Vernetzung künstlicher Intelligenz
durchgeführt werden
Wie auch immer
kein Grund zur Panik, Leute !
also bitte
bleibt auf unsere Welle eingeschaltet
für weitere Informationen und natürlich
Musik
Das waren die 4 Uhr-Nachrichten von
Radio "Freak out - wir sind dabei!"
„Was bedeutet das? “ Dave versuchte, zu verstehen.
eine Klimakatastrophe, aber damit nicht genug:
ein Flugzeugabsturz auf den Reaktor Sellafield 4
Tausende von Flüchtlingen, schlimmer als in jedem Science Fiction würden versuchen, sich nach Süden durchzuschlagen
Überforderte Behörden würden Rettungsoperationen diskutieren, Lebensmittel würden knapp, kein Strom, kein Wasser
die Welt sitzt in der Klemme - jetzt beten wir, ein Retter möge kommen
das hätten wir besser früher getan - jetzt ist es zu spät - viel zu spät...“
Kein Abendrot. Die Sonne kämpft sich nicht mehr durch. Bis in die Stadt schafft es das Licht nicht mehr, wie die gütige Mutter, die noch einen Sohn hat, aber keinen
Mund mehr, ihn zu beweinen. Mutter Natur; mehr gibt es nicht mehr.
09:44 p.m. 05. Mai 1985 New Continental Hotel, Millbay Rd., Plymouth
Sarah hatte unmittelbar nach der Nachricht von der Katastrophe ihre Wohnung in der Gosforth Rd. in Seascale verlassen.
Eine unfassbare Völkerwanderung nach Süden hatte eingesetzt. Jeder wollte sich retten. Die Sonne zeigte sich überhaupt nicht mehr.
Neon wurde zum Tag.
Zwei Tage hatte sie bis hier nach Plymouth gebraucht. Die Stadt platzte aus den Nähten So weit es ging waren die Flüchtlinge überall in der Stadt untergebracht
worden. „Etwas Gutes hat diese Katastrophe zumindest“, dachte Sarah. „das New Continental hätte ich mir früher nie im Leben leisten können“. Die Flüchtlinge hatten es im Handstreich
besetzt.
Hunderttausende belagerten den Hafen, um noch einen Platz auf einer Fähre, einem Schiff, einem Kahn zu ergattern.
Gott sei Dank herrschte nur ein leichter Südwestwind. Viele konnten so der Katastrophe gerade noch entfliehen. Wie eine Riesenwand schob sich die nukleare Wolke in
Zeitlupe hinter den Flüchtenden her.
Aber die, die oberhalb von Sellafield wohnten, mussten andere Fluchtwege suchen, oder wurden, wie die Alten und Schwachen, von überforderten Behörden aufgefordert,
zu Hause zu bleiben.
„Keine Panik! Die Regierung hat alles unter Kontrolle!“
Ihre Mutter lebte in Whitehaven.
Sarah schrieb ihr einen Brief. Würde er sie in diesem Chaos überhaupt noch erreichen? …wohl kaum…
09:44 p.m.05. Mai 1985 irgendwo in einem Schlafsack am überfüllten Strand in der Nähe der Plymouth – Fähren.
Dave dachte zurück an seine Kindheit.
Sein Vater hatte ihn und seine Mutter schon früh verlassen; er hatte seinen Sinn des Lebens in der Forschung nach künstlicher Intelligenz gefunden und war nach
Kalifornien gezogen. Er brauchte keine Menschen mehr. Als Kind hatte Dave zusehen müssen, wie sein Vater immer wieder mit seinen Forscherkollegen auf dem Fußboden mit kleinen Robotern spielte,
sie zu ärgern versuchte,…sie küsste….
Liebe gab es im Haus der leeren Seelen nur für die Roboter.
Träumen Roboter von elektrischen Schafen? Können sie lächeln? Spielen sie Schach? Sind sie gekränkt, wenn sie verlieren? (nicht nur in Russland?) Ist das Denkbare
machbar? Ist das Machbare denkbar? Was ist die virtuelle Realität?
Die letzten rosa Brillen zerbrechen. Fortschritt. Oh nein, diese Welt wird nicht mehr von den Menschen zerstört! Die neuen Teufel sind digital-intelligent, höllisch
klug und himmlisch genügsam. Noch grüßen sie dich verschlagen, unterwürfig..., doch ihr Gruß ist kalt wie Stahl. Seltsam..., Roboter können nicht lächeln....
Sein Vater hatte an den künstlich-intelligenten Computern mitgearbeitet, die jetzt überall in der nördlichen Hemisphäre genveränderte Bakterien freigesetzt
hatten:
Er und seine Freunde hatten diese Katastrophe verursacht, im Namen ihres neuen cartesianischen Gottes: künstliche Intelligenz:
Warum? …für eine frühere Erdbeerernte und ähnliches…;nein,….kein Witz….
Aber auch Mutter in ihrer Trauer war für Dave nie erreichbar gewesen.
Fliehen - aber wohin? Deutschland, Frankreich und andere Staaten lassen bereits Militär an ihren Grenzen aufmarschieren. Die Schiffe lichten schon ihre Anker und jedes segelt wieder unter eigener Flagge. In den Süden kommt der Tod zuletzt. Das ahnen die Menschen und nehmen verstohlen die spanische Postkarte von der Wand. Niemand soll sie finden. Und doch, es werden Hunderttausende und sie alle wollen nach Süden.
Santander
Von Santander waren sie weiter nach Llanes gezogen. Ein strahlend blauer Himmel ließ sie die Umweltkatastrophe, der sie knapp entkommen waren, fast
vergessen.
„Wann war er das letzte Mal in einer Disco gewesen?
Tanz oder stirb! Der Rausch Harmageddons “
…Tanze Dave…
Sarah betrat die Tanzfläche des FANTASIA TRES
Tanz oder stirb! Der Rausch Harmageddons “
…Tanze Sarah…
Wie ein verrückt gewordener Satellit streunte Dave durch die Irrgärten der Klänge; seine Füße schienen im Treibsand des Lebens zu versinken. Eine Fee tauchte neben
ihm aus dem Nebel auf. Die salzigen Strassen waren vergessen.
…Zum Tango gehören zwei…,
...Sarah…
…tanze…
Das Meer war einmal ewig. Erinnern, spüren, lauschen; vielleicht sogar vergessen, dass die Welt zerbrechlich ist-...und die Liebe,...
wie ein Kristall,...,. Zeit - eine Linie? ...nein, ...Wellen..., Wellen ...., endlos..., wiederkehrend...
wie viel Zeit bleibt uns? Tage, Wochen, Monate…?
Ist es das, was wir brauchen?
Zeit?
….nein...,
… Liebe…
Haben die Grauen gesiegt? Lass uns nicht aufgeben; lass uns weiter reiten zum Echo der Zeit;
auf den Schwingen des Warum und Wann werden wir wiederkehren…
Die Wälder halten den Atem an.
Mama, lass mich nicht einschlafen! Nicht jetzt...;
einer -, viele -, alle müssen kommen...und die Hoffnung schaffen!
Weiß erklärt schwarz,
Licht die Dunkelheit,
weiblich männlich.
... eins plus eins ist eins...
...alles schwingt...
... Hoffnung...?
Sarah und Dave ließen sich in den Picos de Europa mit Gleichgesinnten nieder und nannten ihre Gemeinschaft Nutopia.
...früher haben wir immer das grüne Gras geschnitten...
Sarah und Dave bekamen das erste Kind in dieser neuen Heimat: einen Sohn, ein Symbol ihrer Hoffnung.
Sie nannten ihn Lennon „…imagine, there’s no countries…“
(Ein Tagebuch voller Erinnerungen)
...eng umschlungen laufen sie durch die immer wieder heranrauschenden Wellen: zwei Liebende, irgendwo an einem Strand an der nordspanischen Costa Verde, , in der
Nähe von Llanes....
die Zeit scheint still zu stehen..., bewegt sie sich vorwärts? rückwärts? in Wellen? in Kreisen?
sie ist nicht wirklich linear....
die beiden setzen sich dort, wo die Wellen aufhören, den Sand zu benetzen, ihre Augenpaare treffen sich.
zwei Universen begegnen sich.
- ja -
ist die Antwort.
Etwas weiter von ihnen entfernt liegt etwas Schwarzes im Sand.
der Mann steht auf und geht hinüber.
„Was ist es?“
„Irgendein Buch, oder ein Kalender.“
„Es sieht alt aus und nass.“
„Ja, scheinbar hat es im Wasser gelegen.“
„Was steht darin?“
„Ich kann es nicht öffnen, die Seiten kleben zusammen.“
„Trockne es vorsichtig in der Sonne, vielleicht kann man es dann später lesen.“
Der Mann legt das kleine schwarze Buch in den trockenen, von der Spätnachmittagsonne erwärmten Sand.
Stunden später, als es getrocknet war, öffnete er es und begann zu lesen:
Wie war die Frage?
Wie ist das Leben jenseits des Horizonts? Ist die Welt größer als dieser graue, verregnete Vorort?
Wo gehen die Lichter hin, wenn sie verlöschen?
Was geschieht mit den Fremden in einer fremden Stadt, einem fremden Land?
Flüchtende und Verweilende
Liebe
ist die Antwort.
…das Haus der einsamen Räume…, das Haus der leeren Seelen…, das Haus des bösen Königs,
…ist die auserwählte Königin die Rettung?
…nein, auch sie ist nur eine fata morgana…
« …also
lebe nach dem Motto: ni dieu – ni maitre… »
„…wo ich war, Mutter?
Ich suchte eine Königin; aber ich konnte sie nicht finden…“
„Stell dir vor, dieses Sandkorn wäre ein Planet...“
„....und dieses auch ..,und dieses...“
„nein, das nicht...,.. das ist hässlich…“
Ein weiteres Universum ist verschwunden in der Unendlichkeit der Zeit
schon immer haben wir einen zeitlosen Walzer getanzt,
schon immer dem Gesang der Amsel zugehört,
schon immer beobachtet, wie die Blätter fallen, schon immer wussten wir,
dass der Herbst kommt...
...vielleicht gibt es Hoffnung für uns und alle, die nach uns kommen, vielleicht können wir lernen, mit allem Leben auf dieser Erde in Eintracht zu
leben?
bellum finitum
der Krieg ist vorbei
…the war is over…
Das Wochenende nahte…- DAS Wochenende…das "Festival der sich Bewegenden- the festival of movers" – wie in jedem Jahr feierten sie ihren Auszug aus England, damals,
nach der Katastrophe; Jahre waren seitdem vergangen; die Katastrophe war mittlerweile ein Event geworden – jeder, der als "kritischer Geist" anerkannt werden wollte, kam vorbei:
der Wahnwitz feierte sein Jubiläum: "Seid ihr alle da?"
"Ja, Kasper!."
"…dieses Mal, vielleicht - kamen die Außerirdischen dieses Mal, um zu retten, was wert war, gerettet zu werden?"
Dave saß vor der Bar Z und nippte an seinem las campanas - Rotwein.
… die ersten Schatten milderten die Gluthitze des Nachmittags. Ein paar Fahrräder klingelten und waren wieder weg.
Auf dem Marktplatz vor ihm tummelten sich die Touristen an den Ständen seiner Freunde. Sie kauften die Lieder, die Musik, den Schmuck, das Obst und das Gemüse; kurz,
alles, was Dave und seine Freunde zur Sicherung ihres Lebensunterhalts produzierten oder anbauten.
Wie in jedem der letzten Jahre waren Touristen wieder aus den Städten der Grauen zum "Festival of movers" angereist, dem Festival, an dem auch Dave mit seinen
Freunden wieder einmal auftreten würde. (...let´s hope for the best - toi,toi,toi...)
Wie in einem zoologischen Freigehege besichtigten sie dieses Dorf der restlichen, mittlerweile in die Jahre gekommenen Aussteiger, der "Bunten" wie sie sich selbst
immer noch nannten; die meisten ihrer Kinder hatten sich von den alten "Bunten" abgewandt und sich zurück in die schrillbunte, laut lärmende Welt der "Grauen" locken lassen
Auch Daves und Sarahs Sohn Lennon hatte die Gemeinschaft vor 3 Jahren verlassen und eine Blitzkarriere in der Medienwelt der "Grauen" als Produzent von Reality-Shows
gemacht. Sein Durchbruch war die Show HARD TIMES...
Wehmütig schweiften Daves Gedanken vierundzwanzig Jahre zurück:
Zusammen mit Gleichgesinnten hatten Sarah und er diese Gemeinschaft in den Bergen der Picos de Europa aufgebaut.
Sie hatten nicht wirklich an eine Zukunft geglaubt; nur noch gehofft, dass der Irrsinn der "Grauen" die Welt nicht endgültig vernichten würde.
Zeit und Natur ließen die Erinnerungen an die Katastrophe verblassen; auch Daves Wut auf die "Grauen", auf ihren Machbarkeitswahn, auf ihre Gier war lange schon
verblasst, er hatte diese Energie abgezogen und für wichtige Dinge eingesetzt: Natur, Musik ,Malerei mit Farben und Worten.
Nach einem kurzen entsetzten Innehalten hatten die "Grauen" schon bald wieder dort weitergemacht, wo die Katastrophe ihren Anfang genommen hatte; ja sie hatten ihr
System sogar noch weiter ausgebaut und perfektioniert.
" Legt ein bisschen Make-up auf und seid nett"; das war zum geflügelten Wort in der Gemeinschaft der Aussteiger geworden; Lennon, ihr Kind, hatte diesen Spruch
geprägt: in jedem Jahr zum festival of movers überfluteten tausende von fastbunten "Grauen" wie Pilger ihre Aussteigergemeinschaft und Dave und seine Freunde starrten in ihre hungrigen
Kameras.
Damals als sie in Spanien angekommen waren sie Fremde, Fremde in einem fremden Land; - strangers in a strange land - unpassend – überall - misfits.
Sarah war lange schon tot.
Wie viele andere aus ihrer Gemeinschaft hatte sie die harte Strahlung der Katastrophe nicht überlebt.
Sie war es gewesen, die dieser kleinen Gemeinschaft den Namen Nutopia gegeben hatte.
Sarah hatte Dave eine Geschichte erzählt von einem Land, von dem niemand genau wusste, wo es lag und ob es wirklich existierte und weil der Gedanke an dieses Land
vollkommen neu war und jeder hoffte, es möge existieren, einigte man sich darauf, dass es Nutopia hieße.
Nach dieser Geschichte hatten sie ihre Exklave der "Bunten" voller Hoffnung Nutopia getauft, die neue Utopie eines Lebens im Einklang mit der Natur.
…Nutopia ist außer Reichweite...(wahrscheinlich war das schon immer so gewesen)
Heilt die Zeit alle Wunden? Oder muss man, wenn man nicht vergessen will, die Erinnerungen immer weiter bluten lassen?
"Doktor, bitte, bleib draußen, ich will dass diese Erinnerungen weiter bluten!"
Nach dem dritten Glas campanas erklärte Dave einseitig den Krieg mit den Grauen für
beendet:
" der Krieg ist vorbei!"
Nein, es war nicht die Resignation vor der permanenten Übermacht; es war der Versuch, nachhaltig mit der ihm verbliebenen Energie sinnvoll umzugehen.
Er würde auch weiterhin solidarisch mit jedem, der das System der Grauen hinterfragte oder bekämpfte, bleiben.
Aber seine Energie beschloss er nur noch einzusetzen, um hundert Blumen zum Blühen zu bringen, um Worte für hundert Lieder, Farben für hundert Bilder zu
finden.
Für ihn war der Krieg vorbei; er hatte überlebt und zählte nach, ob der geringe Sold des Kriegers ausreichte, Saatgut für einen neuen Garten zu kaufen.
Er nippte erneut an seinem las campanas - Rotwein und begann zu singen:
...bellum finitum… nihil reliquum, dies irae praeterita.
...der Krieg ist vorbei, nichts ist geblieben die Tage des Zorns sind Vergangenheit…
Krieg wollte ich nie, aber die Grauen …
die Grauen: die, die das Kind fragten:
Willst du nicht lieber so sein wie die Anderen?
Sieh doch, die Anderen sind so viele, und du bist allein….
Wir werden dich immer lieben - solange du brav bist;
schau, wir sind so viele,
…wir sind… Gott… wir sehen alles
...wir sind… die Regierung… wir regeln alles…
...wir sind... dein Vater deine Mutter… uns verdankst du alles…
…wir sind… Musik… lerne unsere Lieder…
-wir sind die Grauen–
…Wer hat dir etwas von Farben erzählt?...
…Wer?...
…Vertrau uns… wir lieben dich…
…Grauen…?
…Farben…? Musik…?
…Gibt´s auch Musik oder gibt es nur Konzerte…?
Aber anders… irgendwie anders... "…I’m not like everybody else…"
Grau ist keine Farbe… ist ein Konzert Musik? ist Musik Tanz? ist Tanz Bewegung? ist Bewegung Veränderung? ist Veränderung grau?
.. nein…
Veränderung ist,… wie Jahreszeiten…, ein Wechsel…, ein Spektrum…, eine unfassbare, unbegrenzbare Bewegung…, Tanz…,.Musik, …. Konzert….,Farbe…, Konzert…, Musik…,
Tanz…, Bewegung…, Spektrum…, Wechsel…, Jahreszeiten…, Wellen,…Veränderung?
Grau?
Nein.
Krieg?
Krieg den Grauen, dem grauen Gott, dem Volk der Grauen, der grauen Musik, den Tänzen der Grauen, den Spielen der Grauen, den Gedanken der Grauen…
…Mama, … es sind so viele…, sie sind so stark…, sie zweifeln nie…, ich habe Angst, dass sie den Krieg gewinnen werden….
…Gewinner? Verlierer?... das zählt nicht am Ende des Krieges…, am Ende gewinnen alle,…oder verlieren alle….?, egal…, es zählt niemand, nichts zählt
mehr,…denn,
… es ist doch das Ende…!
.. Sarah…
Wohin gehen all die Lichter, wenn sie ausgehen,...all die Fremden in einer fremden Stadt…?
Nutopia?
Der Krieg ist vorbei!
…ist der Krieg vorbei…?
…nein, er ist noch nicht vorbei, der Krieg…
"…there is a war between the rich and poor…" *, summt Dave plötzlich eine Melodie, an die er sich seit Jahren
zu erinnern versucht, „ja, nur heute hat er ein anderes Gesicht: er trifft jeden einzelnen unterschiedlich“, denkt er und greift nach seiner fast leeren Las
Campanas Rotweinflasche. Dave sitzt in der wärmenden herbstlichen Nachmittagssonne auf einer Bank auf der Plaza de las Barqueras in Llanes und denkt zurück an sein Dorf und die
Gemeinschaft der „Bunten“ in den Bergen der Picos de Europa.
Spekulanten hatten ihr kleines Dorf aufgekauft und auf den umliegenden Feldern graue Betonpaläste für die Touristen der „Grauen“ errichtet. Dave und seine
letzten noch verbliebenen „Bunten“ waren obdachlos geworden und durch Spanien geirrt, auf ihrer verzweifelten Suche nach einer neuen Heimat: refugees –Flüchtlinge; letztendlich kehrte Dave nach
Llanes zurück, als Wino lebt er seitdem unter den Brücken, gar nicht so weit entfernt von seinem alten Dorf.
Hier in Llanes werfen Passanten, "die Grauen", diesem Obdachlosen, diesem Tramp, diesem Hobo mit dem merkwürdigen Grinsen auf seinem Gesicht, der doch so gar nicht
zu dieser fröhlichen Menge schöner, gut gekleideter Menschen passt, einen irritierten, fast verärgerten Blick zu.
Ein weiteres, fast schon vergessenes Lied sprudelt über seine Lippen:
"Gonna pass me a brand new resolution,
Gonna fight me a one man revolution" **
Ein Tourist bleibt stehen und ruft wütend: "Was hast du hier zu suchen, Wino? Geh dorthin zurück, wo du herkommst, unter deine dreckige Wino - Brücke! Du beleidigst
unsere Augen!
Sieht so das Leben aus, von dem geträumt hast, als du noch jung warst?"
"…when I was young, there was more important…" *** singt Dave aus vollem Hals,
"…pain more painful and laughter so much louder yeah…!" *** und schreit ihm zu: "verpiss dich,
Wichser, nerv´ jemand anderen! Was weißt du schon von Träumen? Hast du je einen großen Traum geträumt? "
Er leert die Rotweinflasche, seine dritte für heute, mit einem Schluck, und mit einem seltsamen Knirschen springt die Zahl von 24896 auf 24897, die Zahl auf seinem
mechanischen Lebenstraumzähler; der Zähler, der sie alle zählt: die Tagträume, die Nachtträume, die wunderschönen, wie auch die Albträume, egal, ob Dave sich je wieder an sie erinnert oder
nicht.
Seit ein paar Tagen hat er das Gefühl, in seinen etwas klareren Augenblicken, als knirsche der Zähler ganz seltsam – sollte ihn das nicht vielleicht
beunruhigen?
"Keine Ahnung, wie viele Träume mein Zähler so aushält oder ob er, wann und warum auch immer, seine Arbeit irgendwann plötzlich endgültig einstellt? Vielleicht
setzen Art und Intensität der Träume seiner Mechanik unterschiedlich stark zu? Vielleicht wird ein letzter Traum ihn unwiederbringlich zerstören? "…to
dream the impossible dream…" ****
...und dann…?"
…er versucht, darüber nachzudenken: "...24897, …die Zahl kenne ich, aber wieso kann ich mich an keinen meiner Träume mehr erinnern! …irgendwer muss sie gestohlen
haben! …wo sind sie?"
In einem kleinen Gässchen, ganz in der Nähe der Plaza Barqueras sperrt ein alter Mann gerade seinen Laden, ein Fundbüro, zu.
"Heute findet keiner mehr den Weg hierher und, sagen wir mal so: morgen ist ja wieder ein neuer Tag; neuer Tag – neues Glück - für all die 'noch immer Suchenden'",
kichert er in seinen etwas ungepflegten Bart.
Auf dem Nachhauseweg denkt er nach über die seltsamen Träume, die sich in seinem Fundbüro angesammelt haben; weit mehr als 20 000 sind es bereits und fast hat er
schon keinen Platz mehr für all seine anderen Fundsachen. Niemand hat bisher einen dieser verrückten Träume je wieder abgeholt.
"Was", fragt er sich, “soll ich damit anfangen? Sicher wäre der Verlierer glücklich sie wieder zu finden, aber sucht er denn wirklich ernsthaft danach? Kommt er
überhaupt auf die Idee, in einem Fundbüro nachzufragen? Und was, wenn die Träume gar nicht verloren, sondern gestohlen sind?“
Er weiß natürlich, dass Einiges in seinem Laden Diebesgut ist. Nach einer "gewissen Wartezeit" versteigert er es gemeinsam mit den Fundsachen auf seinen Auktionen -
business - , aber er muss ja von irgend etwas leben.
"Vielleicht kann ich diese Träume ja auch versteigern? Sicher gibt es genügend Realisten, die daraus noch Geld schlagen können! Die blöden Diebe konnten
offensichtlich nichts damit anfangen!"
Am nächsten Morgen hängt er ein Schild in sein Schaufenster:
...elf Träume stellt er in sein Schaufenster...:
An diesem Freitag durchstöbert Dave die Papier- und Müllkörbe der Gassen und Straßen von Llanes auf der Suche nach Pfandflaschen und sonstig
Verwertbarem.
"Hey, da ist dieses Lied ja schon wieder!" Der Text fließt über seine Lippen:
"someway, gonna start my rebellion today.
but here come the people in grey,
to take me away." **
Eine Minute später schaut er in eine kleine Gasse, an deren Ende ein kleines Fundbüro liegt….
* (“there is a war” -Leonard Cohen )
** (here come the people in grey – RayDavies)
*** (“when I was young” – Eric Burdon)
**** (the impossible dream -Alex Harvey)
Er betritt das Fundbüro und der Mann am Empfang fragt ihn:
"Kann ich Ihnen helfen?"
Dave antwortet:"Meine Träume liegen da in Ihrem Schaufenster; ich erkenne sie wieder. Kann ich sie zurück haben?"
Können Sie beweisen, dass es Ihre sind?" fragt der Mann.,
"Nein, tut mir Leid, kann ich nicht; aber glauben Sie mir: es sind meine!"
"Tut mir sehr Leid", antwortet der Mann;" aber vielleicht können Sie sie heute Abend bei der Auktion kaufen...?"
"Ich bin ein Habenichts, ich habe absolut kein Geld...", flüstert Dave und mit einer Träne in seinem Auge verlässt er den Laden.
"Ist mir egal", denkt er trotzig.
Draußen schließt er seine Augen und sieht einen blauen Mond über einer Marocco-ähnlichen seltsamen, burgunderfarbenen Landschaft aufgehen; er fängt an zu singen:
"...wahre Liebe gibt es nur dann, wenn der Mond blau ist..."******
"Ich werde einen neuen Traum träumen!
Er öffnet seinen Geist und sieht viele Menschen auf ihrer Suche nach dem blauen Mond – hinter dem Horizont...
*(“there is a war” -Leonard Cohen )
**("here come the people in grey" – The Kinks)
***(“when I was young” – Eric Burdon)
****(the impossible dream -Alex Harvey)
*****("here come the people in grey" - The Kinks)
******("Sarah" - green wave)
Ende
Story, Fotos und /s/w Graphik:Rainer Wahlmann
Malerei: Roswitha Thonet
https://www.pinterest.de/GalerieRotho/
https://www.rotho-malerei.info
Rainer Wahlmann
+49 (0) 176 - 41822047 (mobile)
+49 (0) 681 - 66 182